Amtsgericht-Hamburg-Mitte Lisa Körte, achtung

29. April 2015, 11:54 Uhr

Reportage Zimmer 279 – Alltag am Amts­ge­richt Hamburg-Mitte

Amtsrichter Björn Jönsson öffnet die Tür des Sitzungssaals 279. Für ihn stehen heute vier Verhandlungen an. Als erstes wird ein Ladendiebstahl und Beamtenbeleidigung verhandelt. Vor dem Saal wartet bereits ein breitschultriger Mann. Er erkundigt sich nach seinem Freund, dem Angeklagten Marvin B.* „Den haben wir hier sicher untergebracht. Der sitzt unten in der Untersuchungshaftanstalt“, antwortet Jönsson dem Mann.

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Die angeschlossene Haftanstalt erleichtert die Überführung, hat aber auch psychologische Gründe. „Personen, die vor der Verhandlung in U-Haft saßen, haben eine höhere Geständnisbereitschaft“, weiß der Amtsrichter. Wer einmal die Enge der zehn Quadratmeter Haftzelle erlebt hat, versucht dieses Erlebnis möglichst zu einem einmaligen zu machen. Ob diese Abschreckung auch bei Marvin B. Wirkung gezeigt hat? Die heutige Verhandlung wird es zeigen.

Ein ganz normaler Tag am Amtsgericht

Es ist jetzt 9.45 Uhr. Der Amtsrichter, die Verteidigerin und die Staatsanwältin sitzen bereits im Verhandlungssaal. Auch der Kumpel des Angeklagten ist anwesend und nimmt als Zuschauer Platz. Außerdem zehn Schüler einer achten Klasse des Gymnasiums Blankenese. Gerichtsverhandlungen kennen sie nur aus dem Fernsehen à la RTL. Da geht es immer ordentlich zur Sache: Pöbeleien und fliegende Fäuste.

Ob es im Amtsgericht auch so rasant zugeht? Grundsätzlich ist es der Öffentlichkeit immer erlaubt, an Verhandlungen teilzunehmen, sofern der oder die Angeklagte über 18 Jahre alt ist. „Die Öffentlichkeit ist ein wichtiger Pfeiler der Justiz“, erklärt Jönsson. „Wenn man sie ausschließt, muss die Verhandlung womöglich wiederholt werden.“ Ausnahmen gibt es nur bei Fällen wie Vergewaltigungen.

Als der Angeklagte den Raum betritt, macht er einen unaufgeregten Eindruck. Ob aus Gleichgültigkeit oder Unschuldsbewusstsein lässt sich als Beobachter schwer sagen. Die Staatsanwältin liest die Anklageschrift vor. Es entsteht ein erstes Bild vom Angeklagten, das so gar nicht zu diesem schmächtigen Mann passen will.

Der 26-Jährige soll am 13. März 2015 in einer Parfümerie zwei Gegenstände im Wert von 147 Euro geklaut haben. Nachdem die Polizei eingetroffen ist, soll es dann zu einer Auseinandersetzung gekommen sein. Als die Staatsanwältin die Worte vorliest, die Marvin B. den Beamten an den Kopf geworfen haben soll, kichern die anwesenden Schüler. Die Beschimpfungen scheinen sie eher zu belustigen, als zu erschüttern. „Dahinten ist jetzt Ruhe!“, weist Amtsrichter Jönsson die Klasse zurecht. Jetzt ist es hinten tatsächlich still. Ebenso auf der Anklagebank. Marvin B. zeigt keine Regungen, keine Emotionen. Er hört einfach nur zu.

Diebstahl und Beamtenbeleidigung

Im Laufe des Verfahrens gibt er zu, den Diebstahl begangen zu haben. An die Beschimpfungen könne er sich nicht mehr erinnern. Ein weiteres Puzzleteil fügt sich in das Bild ein: Drogenabhängigkeit. Am Tattag war er außerdem betrunken und konnte sich nirgends seine Ersatzdroge besorgen. Die Tat sei eine Kurzschlussreaktion gewesen, um an Geld zu kommen, sagt Marvin B.

Die Drogenbiografie des Angeklagten ist ebenso prall gefüllt wie sein Vorstrafenregister. Mit 13 Jahren Cannabis-Konsum und mit 16 dann auch noch Heroin. In diesem Alter startete auch seine kriminelle Karriere mit Diebstählen, Leistungserschleichungen, Körperverletzungen und bewaffnetem Raub. Entgiftungen und Therapien waren bisher erfolglos, sagt Marvin B. „Ihre Einstellung wirkt auf mich sehr gleichgültig“, sagt der Amtsrichter. Erschwerend kommt für Björn Jönsson hinzu, dass die nun verhandelte Straftat während einer laufenden Bewährung begangen wurde.

Die Staatsanwältin hält dem Angeklagten zugute, dass er sich geständig gezeigt hat. Negativ fällt dagegen die bestehenden Bewährungsstrafe ins Gewicht. Ihr Urteil: 150 Tagessätze à 7 Euro. Die Verteidigerin plädiert auf eine Freiheitsstrafe auf Bewährung. „Der Vorfall war eine Ausnahmetat, die aus dem alkoholisierten Zustand und dem fehlenden Drogen-Substitut resultiert ist.“ „Tut mir alles leid, was an diesem Tag gelaufen ist“, nuschelt der 26 Jahre alte Angeklagte unverständlich.

„Bitte erheben Sie sich für die Urteilsverkündung“

Im Namen des Volkes ergeht dann das Urteil: vier Monate Freiheitsstrafe. Marvin B. lehnt sich entspannt zurück. „Man gibt Ihnen eine Bewährungsstrafe und Sie begehen die gleiche Tat wieder. Geldstrafen sind da nicht das adäquate Mittel“, unterstreicht Jönsson sein Urteil. Die Freiheitsstrafe wird nicht in eine Bewährungsstrafe umgewandelt.

„Ich habe nicht das Gefühl, dass er bis zum Berufungsverfahren untertaucht. Deshalb habe ich ihn aus der Haft entlassen“, so der Amtsrichter nach der Verhandlung. Marvin B. sollte seine Zeit in der Freiheit gut nutzen. Wenn er sich um einen Platz in einer sozialen Einrichtung bemüht, um von den Drogen loszukommen, besteht eine realistische Chance, dass die Freiheitsstrafe noch zu einer Bewährungsstrafe wird.

Björn Jönsson ist sich nicht sicher, ob das Urteil Wirkung zeigt, „aber dann klaut er halt noch ein weiteres Mal. Von Diebstahl geht das Vaterland nicht unter.“ Marvin B. und sein Kumpel können heute zusammen das Gebäude verlassen. Ob es das letzte Mal war, dass wir die beiden im Amtsgericht gesehen haben? Wer weiß.

 

*Name von der Redaktion geändert

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